Mit System zum Erfolg

Gelungene Infrastrukturprojekte

Deutsches Ingenieurblatt 12/2022
Ingenieurbüro – Recht & Finanzen
Management
Digitalisierung

Aktuelle ökologische, ökonomische und politische Gegebenheiten stellen uns vor nie dagewesene Herausforderungen. Politik und Gesellschaft haben sich ambitionierte Ziele gesteckt. Der Weg dorthin führt über einen neuen Führungsstil und den Ansatz, Infrastrukturprojekte im Systemzusammenhang zu begreifen.

Deutschland kann zu Recht stolz auf herausragende Erfolge in vielen Bereichen der Wirtschaft und Wissenschaft sein. Hohes mediales Interesse erfährt beispielsweise die Firma BioNTech: Ihr ist es in kürzester Zeit gelungen, einen Covid-19-Impfstoff zu entwickeln und in Kooperation mit Pfizer in großer Menge herzustellen. Der entscheidende Durchbruch bei der Bekämpfung des Coronavirus.

Ein herausragendes Beispiel für die Leistungsfähigkeit, wenn Erfahrung, Fachwissen, effektives Projektmanagement und ein moderner Führungsstil zusammentreffen. Es ist jedoch klar ersichtlich, dass Fortschritte bei der Bewältigung von Großprojekten je nach Land und Industrie stark variieren.

Neue Herangehensweisen sind zu entwickeln

Der traditionelle, "heroische" Führungsstil des Bauwesens ist für moderne Projekte nicht unbedingt geeignet – die Branche muss Führungsmodelle etablieren, die Entscheidungsbefugnisse auf mehrere Schultern verteilen und die Verantwortung auf die Experten in vorderster Linie übertragen.

In der Luftfahrtbranche, Pharmaindustrie und im IT-Sektor werden beachtliche Erfolge realisiert. Die Produktivität steigt, Entwicklungszeiten werden verkürzt und Kosten können reduziert werden. Gleichzeitig sehen wir jedoch auch Branchen, in denen solche Erfolge kaum zu vermelden sind. Infrastruktur-Großprojekte haben damit zu kämpfen, dass sie oft mit erheblichen Verzögerungen und Überschreitung des Kostenrahmens fertiggestell werden. Traurige Berühmtheit hat hier der Flughafen Berlin erlangt. Diese negative Bilanz setzt sich oft sogar bis in den Betrieb der Anlagen und Einrichtungen fort. Die Erwartungen der Eigentümer, Betreiber und Nutzer werden nur bedingt erfüllt.

Mit der steigenden Komplexität der Systeme und neuen Anforderungen an die Auswirkungen auf die Umwelt sind neue Herangehensweisen zu entwickeln und zu implementieren. Zudem gilt es, Abhängigkeiten im Gesamtkontext zu beachten und die Wechselwirkung der Großprojekte mit den bestehenden Systemen und Angeboten zu berücksichtigen.

Fundierte Grundlage für alle Projektphasen

Im Vereinigten Königreich ist es nun gelungen, unterschiedliche Initiativen, Direktiven und Gremien zu koordinieren. Das Zusammenspiel der Technologie eines digitalen Zwillings und des Said-Modells (Systems Approach to Infrastructure Delivery) bilden die Grundlage dafür, Planung, Genehmigung, Finanzierung, Erstellung und Betrieb von Großprojekten an das Niveau führender Branchen anzunähern.

Der digitale Zwilling ist hierbei das digitale Abbild der physischen Anlagen, Prozesse oder Systeme und umfasst die zugehörigen Sachinformationen, die es erlauben, die Funktionsweise zu verstehen und die Leistung zu beurteilen. Typischerweise zeichnet sich der digitale Zwilling durch eine kontinuierliche Ergänzung und Aktualisierung des Datenbestands aus, unter Einbeziehung von Sensor- und Vermessungsdaten sowie Statusinformationen in Echtzeit. Somit entwickelt sich der digitale Zwilling über den kompletten Lebenszyklus hinweg und liefert eine fundierte Grundlage für alle Projektphasen und die Zusammenarbeit aller Projektbeteiligten. Der Wert und die Leistungsfähigkeit des digitalen Zwillings nimmt kontinuierlich zu und liefert weit über die Lebensdauer der physischen Anlagen hinaus wertvolle Erkenntnisse.

Basierend auf der Arbeits- und Datengrundlage des digitalen Zwillings wurde das Said-Modell federführend vom Institution of Civil Engineers ICE entwickelt. Autor und Projektleiter zweier englischsprachiger Berichte ist Andrew McNaughton (nachzulesen auf www.ice.org.uk).

Acht Prinzipien für Infrastrukturprojekte

Fokus des ersten Berichts ist die methodische Grundlage des systemischen Ansatzes. Im zweiten Teil werden erste Erfahrungen aus Großprojekten im Vereinigten Königreich geschildert, basierend auf Interviews und Gesprächen des Autors mit den verantwortlichen Projektleitern.

Die Methodik und Erkenntnisse aus UK sind für Deutschland eine perfekte Ausgangslage, sehr schnell von der Kombination aus dem digitalen Zwilling und Said zu lernen.

Eine hochkomprimierte Zusammenfassung über die Bausteine von Said liefert das Video unter www.bit.ly/icesaid. (Eine Version mit deutschen Untertiteln folgt in Kürze.)

Dabei wurden acht Prinzipien für Infrastrukturprojekte herausgearbeitet. Gespräche mit Projektleitern aus Bereichen jenseits der Fertigung oder Produktion haben jedoch klar gezeigt, dass dieser durchdachte methodische Ansatz weit über Infrastrukturprojekte hinaus seine Berechtigung hat. Einige Komponenten wurden bereits auch in anderem Kontext genutzt. Mit Said ist es gelungen, eine konsolidierte, strukturierte, an Infrastrukturprojekte adaptierte Systematik zu erstellen.
Hilfreich ist die Aufbereitung in Form von klar verständlichen Handlungsempfehlungen:

  • Richten Sie Ihr Augenmerk auf die Ergebnisse, die es zu erzielen gilt, und die Services, die erbracht werden sollen. Die Anlagen sind "Mittel zum Zweck" und ihre Erstellung nur der erste Schritt.
     
  • Schließen Sie die Lücke zwischen Infrastruktur und anderen Sektoren, die sich bereits schneller an den technologischen Wandel angepasst haben. Übernehmen Sie gute Ansätze und fokussieren Sie Ihre Energie auf ihre Umsetzung.
     
  • Eigentümer und Betreiber müssen von Anfang an im vollen Umfang involviert sein und klar ihre Erwartungen und Anforderungen kommunizieren. Dies reicht bis in Bereiche der Datenstruktur, der verwendeten Technologie, Sicherheitsstandards und auch Innovationsbereitschaft hinein.
     
  • Verwenden Sie eine Systemarchitektur, die einen klaren Zyklus definiert, wie Planung, Spezifikation, Erstellung, Analyse und Validierung zu erfolgen haben, sowie transparente Regeln, wann und in welcher Form Verbesserungen eingebracht werden.
     
  • Legen Sie Wert auf eine gründliche Planung, Überprüfung von Varianten mit dem digitalen Beteiligten, speziell auch den zukünftigen Nutzern. Dieser vermeintliche "Mehraufwand" macht sich bei der Erstellung und im Betrieb bezahlt.
     
  • Integrieren Sie Systemdenken und Ihr Risikomanagement in Ihre Projekt-DNA. Entwerfen Sie Organisationen und Strukturen, die widerspiegeln, wie Sie Risiken managen und Interdependenzen berücksichtigen.
     
  • Statten Sie die Experten an vorderster Front mit den Informationen und Befugnissen aus, um Entscheidungen zu treffen. Stellen Sie sicher, dass die richtigen Stimmen Gehör finden und Verantwortung transparent und effektiv übergeben wird.
     
  • Definieren Sie ein vollständiges und durchgängiges Datenmodell. Der Fluss der Daten regelt maßgeblich die Kommunikation und Kooperation der Projektbeteiligten. Verlustfreie Übergabe zwischen den Projektphasen erhöht die Qualität und Geschwindigkeit bei der Erstellung. Eine gute Datenbasis ist die Voraussetzung für verbesserte Betriebsergebnisse. Daten „ölen“ Ihr Projekt und sorgen für einen reibungslosen Projektablauf und kontinuierliche Verbesserungen im Betrieb.

    Sehr rasch nach Einführung von Said im Vereinigten Königreich haben sich übergreifende Gemeinsamkeiten herauskristallisiert, die in unterschiedlicher Gewichtung für alle Projekte Gültigkeit haben:
     
  • Behalten Sie während des gesamten Projekts das Ende im Blick
    Es ist in allen Phasen des Projekts entscheidend, das Ziel vor Augen zu haben. Diese Sichtweise ist Voraussetzung für eine effektive Planung, muss jedoch mit gleicher Intensität über den gesamten Projektablauf beibehalten werden. Die Fokussierung auf die Endergebnisse führt zu einer besseren Entscheidungsfindung und stellt sicher, dass die Konsequenzen dieser Entscheidungen nachverfolgt, dokumentiert und von allen verstanden werden.
     
  • Stellen Sie sicher, dass sich alle Beteiligten voll einbringen
    Projektvereinbarungen müssen sicherstellen, dass wirklich alle an einem Strang ziehen. Traditionelle Vertrags- und Organisationsstrukturen sind den Herausforderungen moderner, komplexer Infrastrukturprojekte nicht gewachsen. Um Projekte effektiv durchzuführen, müssen Eigentümer ein integriertes und kollaboratives Unternehmen/Umfeld schaffen, das alle wichtigen Organisationen umfasst, die an einem Projekt arbeiten.
     
  • Passen Sie Ihren Führungsstil an
    Der Umfang, die Komplexität, die Dauer und die Vielfalt der Disziplinen, die an der Durchführung eines Projekts beteiligt sind, machen eine Führung, die sich ihrer eigenen Grenzen bewusst ist, unerlässlich. Gute Führungskräfte müssen sicherstellen, dass die Vision eines Projekts von Leistungserbringern, Mitarbeitern und externen Gruppen geteilt wird. Sie haben auch die wichtige Aufgabe, den Stab weiterzugeben, während sich ein Projekt durch seinen Lebenszyklus bewegt, und sicherzustellen, dass die richtigen Stimmen und Führungskräfte zur richtigen Zeit hervortreten.
     
  • Muss alles auf einmal geliefert werden?
    Je größer und komplexer ein Projekt ist, desto schwieriger ist es, es in einem Rutsch zu liefern. Die Bereitstellung von Projekten unter Berücksichtigung von Upgrades und Veralterung ermöglicht es, Ergebnisse in Etappen zu liefern. Bei dem schrittweisen kontinuierlichen Ausbau der physischen Anlagen liefert der digitale Zwilling entscheidende Einblicke in potenzielle Varianten.

Fazit

Die Erfahrungen aus Projekten im Vereinigten Königreich belegen die Relevanz der Said-Inhalte und die Bedeutung des Datenmanagements. Es ist abzusehen, dass die regional entwickelte Methodik international an Bedeutung gewinnen wird. Viele Länder können und werden auf dieser Grundlage aufbauen und auf die Herausforderungen bei ihrer Einführung fokussieren.

In Deutschland ist das Bewusstsein für Strukturen, Prozesse und Qualität weit verbreitet; Said “made in Germany” hat daher absolut das Potenzial, ein Erfolgskonzept zu werden.

Die Komplexität der Projekte, die Anzahl an Projektbeteiligten und die Tatsache, dass es sich um Systeme in Systemen handelt, erfordern eine nicht unerhebliche Anstrengung, etablierte Strukturen und Führungskonzepte an die Erfordernisse moderner Infrastrukturprojekte anzupassen.

Doch das Interesse bzw. die Notwendigkeit, Infrastruktur voranzubringen, ist groß. Viele Firmen in Deutschland starten erste Projekte unter Berücksichtigung der Said-Prinzipien und mit einem Fokus auf Daten/den digitalen Zwilling. Es wird spannend sein zu verfolgen, wie rasch und effektiv Deutschland bei dieser Umsetzung neue Maßstäbe setzt.

Peter Rummel

Diplom Geophysiker; Director, Public Policy and Advocacy bei Bentley Systems; berät Regierungsinstitutionen und Verbände, welchen Beitrag die digitale Transformation auf dem Weg in eine nachhaltige Zukunft leisten kann; bringt über 20 Jahre Erfahrung in verschiedenen Funktionen bei international agierenden Software-Unternehmen mit; unter anderem arbeitete er im Vertrieb, Marketing und Business Development und verfügt darüber hinaus über umfassendes technisches Wissen; nach seinem Geophysik-Studium an der Ludwig-Maximilians-Universität München hatte er in einem Ingenieurbüro mit Schwerpunkt auf der Erkundung natürlicher Ressourcen und Umwelttechnik begonnen; wechselte anschließend zu Autodesk, als dort das Portfolio um Lösungen für GIS/Geospatial erweitert wurde; ging im Jahr 2000 für fünf Jahre zum internationalen Software- und Dienstleister Mensch und Maschine und leitete schließlich das GIS-Team und die Geodatenstrategie in Europa; zurück bei Autodesk konzentrierte er sich auf die Integration einer Akquisition von Geodatentechnologie und des Partner-Ökosystems in Mitteleuropa

www.bentley.com,
Peter.Rummel(at)bentley.com,
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