Herr Prof. Glock, während die Produktivität in den meisten Branchen kontinuierlich steigt, stagniert sie in der Bauindustrie seit 30 Jahren. Woran liegt das?
Prof. Glock: Wenn man ehrlich ist, stagniert die Bauindustrie sogar schon seit den 70er-Jahren. Denn die vielversprechenden Produkt- und Verfahrensinnovationen schlagen sich nicht in der Wertschöpfung nieder. Aus meiner Sicht liegt dies vor allem daran, dass an den Schnittstellen beim Planen und Bauen so viel Effizienz verloren geht, dass davon die Fortschritte aufgezehrt werden. Allein im Betonbau hat sich in den letzten 100 Jahren viel getan. Es gibt neue Verfahren, neue Schalungstechniken und ganz andere Festigkeiten. Beim Stahlbau ist es ähnlich und auch im Mauerwerksbau – wenn man sich vorstellt, wie und mit welchen Steinen früher gemauert wurde. Heute gibt es Kalksandsteine in Großformaten und Ziegelsteine mit verbesserten Wärmedämmeigenschaften.
Bei so viel Fortschritt müsste doch eigentlich ein Produktivitäts-schub durch die Braubranche gehen?
Prof. Glock: Das stimmt. In allen Bereichen finden wir unzählige Innovationen, allerdings führen sie in Summe nicht zu einer Steigerung der Gesamtproduktivität. Es scheint vielmehr so, als ob die Schnittstellenverluste immer größer werden und die Optimierung des Gesamtprozesses zunehmend aus dem Fokus gerät. Das heißt im Umkehrschluss aber auch, dass sich im Bauwesen große Chancen aus der Digitalisierung ergeben könnten. Denn die Stärken der digitalen Lösungen setzen genau an den Schwächen der Bauwirtschaft an – der Prozess- und Schnittstellenoptimierung.
Der Digitalisierungsgrad im Bauwesen nimmt zwar zu, scheint aber keine Auswirkungen auf die Produktivität zu haben. Was läuft falsch?
Prof. Glock: Da zurzeit nur ein kleiner Prozentsatz an Bauprojekten mit modernen digitalen Prozessen umgesetzt wird, schlägt sich das statistisch kaum nieder. Im Vergleich zu anderen Branchen hat das Bauwesen bei der Digitalisierung immer noch erheblichen Nachholbedarf. Daraus resultiert aber auch großes Chancenpotenzial. Denn ein vernetztes und lösungsorientiertes Arbeiten im Team, wie es zum Beispiel die BIM-Methodik erfordert, optimiert die Prozesse und verhindert Redundanzen entlang der gesamten Wertschöpfungskette.
Liegt das eigentliche Problem nicht darin, dass immer noch so gebaut wird wie vor 100 Jahren?
Prof. Glock: Ja, auf den meisten Baustellen werden auch heute noch in handwerklicher Weise Prototypen erstellt. Die Digitalisierung eröffnet uns die Möglichkeit, diese tradierte Produktionsweise zu überwinden. Indem sie alle Beteiligten am Bau dazu zwingt, die Planung zu optimieren und vor dem eigentlichen Bauprozess abzuschließen. Ein Gebäude kann heute als Digitaler Zwilling virtuell exakt geplant und optimiert werden – bevor die Realisierung beginnt. Der Computer kann am Digital Twin über Nacht tausende Varianten prüfen, von denen dann nur die beste oder die wirtschaftlichste auf der Baustelle umgesetzt wird. Auch der Bauablauf lässt sich virtuell erproben und optimieren, bevor er real stattfindet. Damit können wir, wie in anderen industrialisierten Branchen üblich, ein schon in der Planung perfekt ausgereiftes Produkt herstellen, wenn auch in der Regel nur mit der Stückzahl eins. Vernünftige Planung hat Einfluss auf den Bauablauf und umgekehrt haben veränderte Bauabläufe und Bauweisen, wie zum Beispiel Vorfertigung, auch extremen Einfluss auf die Planung. Ich habe früher viele Private-Public-Partnership-Projekte betreut, wo man gezwungen war, ganzheitlich zu denken. Aus meiner Sicht müssen die getrennten Bereiche Planen, Bauen und Betreiben viel enger zusammenwachsen.
Ist angesichts der Kleinteiligkeit der deutschen Bauwirtschaft ein effizienter Gesamtprozess von der Planung bis zur Ausführung überhaupt möglich?
Prof. Glock: Derzeit ist die Kleinteiligkeit in der Tat ein Hindernis. Anders als die Automobilbranche oder beim Bau von Schiffen – und ein Schiff ist letztlich eine schwimmende Immobilie – ist die Bauwirtschaft nicht als Industrie, sondern als Handwerk und mit Kleinstunternehmen organisiert. Dieses sehr deutsche oder auch kontinentaleuropäische Phänomen ist ebenso ein Innovationshemmnis wie die in der HOAI detailliert regulierten Prozesse. Aktuell behindert die Kleinteiligkeit, dass Digitalisierung und Vernetzung auch im Bauwesen zu einer Industrialisierung der gesamten Branche führen.
Wie könnte die Kleinteiligkeit der deutschen Bauwirtschaft überwunden werden?
Prof. Glock: Wenn sich der Bauprozess von der Vor-Ort-Fertigung durch viele Gewerke zu einer eher logistisch geprägten Montage quasi industriell vorgefertigter Elemente wandelt. Der Einsatz von Robotern sowie der 3D-Druck werden auch bei der Fertigung auf der Baustelle neue Perspektiven und Chancen eröffnen. Theoretisch könnte das Haus schon im digitalen Modell aus vorhandenen Produkten und Bauteilen zusammengesetzt werden. Architekten und Fachplaner könnten sich abgesehen von der Gestaltung dann vorrangig auf die Optimierung konzentrieren, denn sie werden bei zeitintensiven Routineaufgaben entlastet. Jeder am Bau Beteiligte vom Produkthersteller bis zum Bauhandwerker muss sich die Frage stellen, welche Rolle er in diesem Gefüge künftig einnehmen möchte? Denn auch die Berufsbilder werden sich gravierend verändern.
Wenn es in Zukunft mehr seriell vorgefertigte Häuser gibt, bleiben dann die Individualität und Ortsbezug auf der Strecke?
Prof. Glock: Mit dem bestehenden kleinteiligen System ist es offensichtlich nicht möglich, ausreichend bezahlbaren Wohnraum in ansprechender Architektur herzustellen. Gerade im Geschosswohnungsbau wird man deshalb in Zukunft mit einem höheren Grad an Systematisierung planen und bauen müssen. Der Baustoff Mauerwerk ist meines Erachtens nach bestens geeignet, um den Spagat zwischen Individualisierung und Platte 2.0 zu schaffen. Denn im Grunde ist jeder Stein bereits ein vorgefertigtes Element, ein Fertigteil. Die automatisierte Verlegung von Mauerwerkssteinen auf der Baustelle mithilfe leistungsstarker Roboter würde die effiziente und individuelle Vor-Ort-Fertigung mit den Skaleneffekten einer Produktion in großen, profitablen Mengen verbinden und nebenbei auch noch die Problematik des Fachkräftemangels entschärfen. Technisch liegt die Lösung hier auf der Hand und wird nach meiner Ansicht wesentlich schneller zur Marktreife gelangen als der 3D-Druck für Beton. Mit den Prozessen auf der Baustelle werden sich auch die Vertriebsprozesse ändern. Die herstellendende Industrie sollte deshalb stärker gewerkeübergreifend denken und ihren Kunden in Zukunft maßgeschneiderte Gesamtlösungen statt Steine mit bestimmten bauphysikalischen Eigenschaften anbieten. Neue kundenorientierte Lösungen könnten u.a. Haustypen mit Individualisierungspotential sein.
Aktuell bieten viele Hersteller unterschiedlichste Planungstools für Architekten und Planer an. Ist das die richtige Antwort auf den digitalen Wandel?
Prof. Glock: Das ist auch meine Wahrnehmung. Viele Produkthersteller versuchen, mit möglichst komfortablen Tools den Absatz ihrer Produkte anzukurbeln. Wenn sie die Arbeit von Architekten und Fachplanern erleichtern, steigt die Chance, dass das eigene Produkt eher in Ausschreibungen berücksichtigt wird. Doch wie sieht es aus, wenn in einigen Jahren nicht mehr Architekten und Fachplaner das Produkt aussuchen, sondern sich der Rechner die einzelnen Bauprodukte nach rein analytisch-objektiven Kriterien für sein Modell zusammensucht?
Was ist Ihr Rat an Bauunternehmen, die der Digitalisierung kritisch gegenüberstehen?
Prof. Glock: Auf dem Weg in die Digitalisierung gibt es keine simplen Handlungsempfehlungen gibt. Deshalb ist es wichtig, keine Angst vor digitalen Themen zu haben, sondern in ihnen eine Chance zu sehen. Hilfreich ist es, sich digitale Teilziele zu setzen, die nicht zwingend gradlinig laufen müssen. Entscheidend ist der Austausch mit anderen Branchenteilnehmern aber insbesondere auch den Gebäudenutzern. Wichtig ist dabei die gemeinsame Überlegung, wie sich aus den digitalen Möglichkeiten echter Zusatznutzen generieren lässt. Der kann zum Beispiel darin bestehen, dass der spätere Hausbewohner mithilfe einer VR-Brille sein geplantes Haus besichtigen kann. Etwaige Änderungswünsche können dann direkt ins virtuelle Gebäudemodell eingearbeitet werden. Derartige Tools können ein erster Schritt auf dem Weg in die Digitalisierung sein. Die Schnittstellen sollten allerdings so kompatibel gestaltet sein, dass sie sich jederzeit in ein größeres System integrieren lassen.