Start » Ingenieurwesen » Baukultur

Warum Deutschlands Zukunft im Bestand liegt

Interview mit Prof. Dr.-Ing. Betzler zum Tag der Umbaukultur

Seitdem die Bundesstiftung Baukultur am 8. November 2022 ihren Baukulturbericht „Neue Umbaukultur“ vorstellte, ruft sie jedes Jahr am 8. November zum „Tag der Umbaukultur“ auf. Prof. Dr.-Ing. Martin Betzler, Präsident der Ingenieurkammer Niedersachsen, beschäftigt sich als Vorsitzender des Ausschusses „Umbauordnung“ der Bundesingenieurkammer mit aktuellen zentralen Fragestellungen des ökonomischen und sozial-ökologischen Bauens.
Prof. Dr.-Ing. Martin Betzler, Präsident der Ingenieurkammer Niedersachsen und Vorsitzender des Ausschusses „Umbauordnung“ der Bundesingenieurkammer © Ingenieurkammer Niedersachsen
Prof. Dr.-Ing. Martin Betzler, Präsident der Ingenieurkammer Niedersachsen und Vorsitzender des Ausschusses „Umbauordnung“ der Bundesingenieurkammer © Ingenieurkammer Niedersachsen

Die Bundesstiftung Baukultur hat den 8. November als Tag der Umbaukultur ins Leben gerufen. Warum ist es wichtig, das Thema in den Mittelpunkt zu rücken und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen?

Martin Betzler: Die Umbaukultur adressiert die aktuellen zentralen Fragestellungen des ökonomischen und sozial-ökologischen Bauens. Zum einen steckt der Wohnungsbau – auch wenn im Moment eine leichte Erholung in Sicht ist – immer noch in einer Krise: Steigende Zinsen, hohe Material- und Energiepreise bremsen die Schaffung von bezahlbarem Wohnraum massiv aus. Zum anderen wird immer klarer, dass wir uns Neubauten im alten Stil – also mit hohem Ressourcenverbrauch und Flächenversiegelung – ökologisch nicht mehr leisten können. Und wir haben in Deutschland rund 20 Millionen Gebäude, von denen etwa drei Viertel energetisch sanierungsbedürftig sind. Das bedeutet: Der größte Hebel für Klimaschutz und nachhaltige Stadtentwicklung liegt im Bestand, nicht im Neubau.

Ganz konkret: Welche Vorteile bietet das Bauen im Bestand?

Martin Betzler: Der offensichtlichste ist die Ressourcenschonung. Jedes bestehende Gebäude enthält enorme Mengen sogenannter „grauer Energie“, also Energie, die bereits in Bauprozesse, Materialien und Transport geflossen ist. Der Abriss vernichtet die im Gebäude gespeicherte graue Energie – sie kann nicht weiter genutzt werden, und die entstehenden Bauabfälle werden z. B. für Verfüllungen verwendet oder landen auf der Deponie. Ein echtes Baustoffrecycling findet allerding selten statt. Beim Bauen im Bestand werden außerdem bestehende Infrastrukturen genutzt: Straßen, Leitungen oder ÖPNV anstatt neue Flächen zu versiegeln. Ein weiterer Aspekt ist, dass gewachsene Stadtbilder und Identitäten erhalten bleiben. Dies ist für soziale Stabilität und Baukultur wichtig.

Bisher galten Umbauten vor allem als teurer oder komplizierter als Neubauten. Investoren bevorzugen noch immer den Neubau. Ist dies nachvollziehbar?

Martin Betzler: Bestandsgebäude bringen Überraschungen mit sich: Schadstoffe, alte Leitungen, unklarer Lastabtrag. Das macht Planung und Kostenabschätzung schwieriger und ist häufig mit höherem Aufwand verbunden. Dieser muss natürlich dann auch honoriert werden. Auch rechtlich ist der Bestand oft benachteiligt. Viele Baugesetze und Förderprogramme sind immer noch auf Neubauten ausgerichtet. Für Umbauten gelten teils dieselben Anforderungen wie für Neubauten – etwa beim Brandschutz oder der Barrierefreiheit, auch wenn diese technisch gar nicht immer 1:1 umsetzbar sind. Viele Umbauprojekte scheitern daran. Deshalb wird es ohne eine Umbauordnung nicht gehen – also eine angepasste Gesetzgebung speziell für das Bauen im Bestand.

Sie sind Präsident der Ingenieurkammer Niedersachsen. Das Land hat 2024 in Sachen Umbau von sich Reden gemacht. Können Sie das kurz erläutern?

Martin Betzler: Die Änderungen der Niedersächsischen Bauordnung (NBauO) machen das Bauen im Bestand in Niedersachsen deutlich attraktiver und praxisnäher. Dank der neuen Bauordnung müssen in Niedersachsen bei gewissen Umbauten die heutigen Anforderungen nicht eingehalten werden, sondern die gültigen Vorschriften aus dem Jahr der Entstehung des Gebäudes. Durch geringere technische Anforderungen bei Bestandsmaßnahmen, schnellere Verfahren und einen stärkeren Fokus auf Umnutzung und Wohnraumschaffung wird Eigentümern und Bauherrinnen die Entscheidung erleichtert, bestehende Gebäude zu sanieren oder umzunutzen, statt neu zu bauen. Die Sicherheit, insbesondere die Standsicherheit, darf allerdings zurecht nicht angetastet werden. Wir würden uns freuen, wenn andere Länder hier nachziehen und ihre Bauordnungen umbaufreundlich gestalten.

Welche Rolle spielen die planenden Berufe?

Martin Betzler: Eine sehr große. Bauen im Bestand ist kein „Notbehelf“, sondern eine planerische und kreative Herausforderung. Ingenieurinnen und Ingenieure sowie Architektinnen und Architekten müssen vorhandene Strukturen neu lesen, weiterdenken, transformieren. Gute Projekte zeigen, dass Umbau nicht nach Kompromiss aussieht, sondern neue Qualitäten schafft – räumlich, sozial und ökologisch. Zu den bekanntesten gehören die Umnutzung alter Industrieareale in Leipzig und Hamburg oder die Umnutzung von Büroflächen in Wohnflächen. Diese Orte haben heute eine ganz eigene Urbanität.

Wie sehen Sie die Zukunft? Wird der Neubau bald zur Ausnahme?

Martin Betzler: Ohne Neubau wird es natürlich nicht gehen – etwa, wenn Gebäude und Bauwerke wirklich marode sind oder neue Infrastrukturen entstehen müssen. Gleichzeitig müssen wir beim Neubau zukünftig auch den Lebenszyklus eines Bauwerks betrachten. Das bedeutet, dass wir bei der Entstehung des Bauwerks die spätere Umnutzung oder das Recycling von Materialien mitdenken. Darüber hinaus werden wir künftig viel häufiger prüfen, ob wir etwas Bestehendes weiterverwenden können, bevor wir neu bauen. Dass der Neubau bald zur Ausnahme wird, glaube allerdings ich nicht. Insbesondere dann nicht, wenn wir es schaffen, zukünftig wieder einfacher und günstiger zu bauen – ohne komplizierte Gebäudetechnik und mit einfachen Grundrissen. Wir müssen versuchen, die Anforderungen an Umbauten weiter zu reduzieren. Zusätzlich sollte der Anwendungsbereich dieser erleichternden Vorschriften auch auf kleinere Anbauten und kleine Sonderbauten ausgeweitet werden. Dann wird der Bestand weiter an Bedeutung gewinnen.

Was muss sich ändern, damit das Bauen im Bestand leichter wird?

Martin Betzler: Erstens: einheitliche und angepasste Bauvorschriften, die Bestandssanierungen realistisch ermöglichen. Zweitens: verlässliche Förderbedingungen und steuerliche Anreize statt Bürokratie schaffen. Und drittens: ein Kulturwandel, weg von der Idee, dass „neu gleich besser“ ist. Wenn wir Gebäude als Ressource begreifen, dann hat die Bauwende wirklich eine Chance.

https://www.bundesstiftung-baukultur.de/veranstaltungen/detail/8-november-tag-der-umbaukultur

Quelle: Bluebeam

NEWSLETTER

Nach Anmeldung versorgt Sie der Newsletter kostenfrei 14-tägig mit einer redaktionellen Auswahl aktueller Nachrichten und Berichten des Deutschen Ingenieurblatts.

Ihre E-Mail-Adresse wird ausschließlich zur Versendung des Newsletters verwendet und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können sich jederzeit per Abmeldelink im Newsletter abmelden (Datenschutzerklärung des Dienstleisters CleverReach).

Ihre E-Mail-Adresse:

Als Ingenieurkammer-Mitglied bitte nicht anmelden – Sie erhalten bereits exklusiv unseren umfassenderen „Mitglieder-Infoservice“ bzw. können diesen über Ihre Kammer bestellen.

BAUPLANER

Bleiben Sie auf dem Laufenden mit dem Bauplaner-Newsletter, unserem 14-tägigen E-Mail-Service, der Bauingenieure und Planer über die neuesten Entwicklungen in der Branche informiert. 

Ihre E-Mail-Adresse wird ausschließlich zur Versendung des Bauplaner-Newsletters verwendet und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können sich jederzeit per Abmeldelink im Bauplaner-Newsletter abmelden (Datenschutzerklärung des Dienstleisters CleverReach).

Ihre E-Mail-Adresse:

NEUE BEITRÄGE

Anzeige: Lesen Sie jetzt das neue ✶ ALLPLAN Whitepaper ✶