Über 140 Experten diskutieren in Stuttgart multifunktionale Fassadensysteme für die Energiewende

Fassaden speichern Wasser und erzeugen Energie

Über 140 Fachleute aus Architektur, Forschung und Industrie haben am 25. September 2025 beim 20. Deutschen Fassadentag in Stuttgart neue Funktionen der Gebäudehülle diskutiert. Wie Fassaden künftig Energie erzeugen, Wasser speichern und Städte kühlen können, stand im Mittelpunkt der Veranstaltung.
20. Deutscher Fassadentag am ILEK Stuttgart – unter dem Dach von Frei Otto diskutierten Experten über die Zukunft der Gebäudehülle. Das Leichtbau-Gebäude, ein Vorläufer des Expo-Pavillons von 1967 in Montreal, gilt als Meilenstein der Architekturgeschichte. © FVHF/Dennis Neuschaefer-Rube
20. Deutscher Fassadentag am ILEK Stuttgart – unter dem Dach von Frei Otto diskutierten Experten über die Zukunft der Gebäudehülle. Das Leichtbau-Gebäude, ein Vorläufer des Expo-Pavillons von 1967 in Montreal, gilt als Meilenstein der Architekturgeschichte. © FVHF/Dennis Neuschaefer-Rube

Der Fachverband Baustoffe und Bauteile für vorgehängte hinterlüftete Fassaden e.V. (FVHF) hatte unter dem Motto „VHF – Wegbereiter der Klimawende“ in das Institut für Leichtbau Entwerfen und Konstruieren (ILEK) der Universität Stuttgart eingeladen.

Der Veranstaltungsort bot die passende Kulisse: Der Pavillon von Frei Otto steht für materialbewusstes Bauen und gestaltete Leichtbaustrukturen. FVHF-Geschäftsführer Wolfgang Häußler eröffnete die Jubiläumsveranstaltung mit einem Appell an die Verantwortung der Baubranche. Die vorgehängt hinterlüftete Fassade (VHF) vereine Nachhaltigkeit, Energieeffizienz, Gestaltungsfreiheit und Kreislaufwirtschaft. Mit der Veranstaltung wollte der Verband ein Zeichen für Wissenstransfer und eine zukunftsfähige Baukultur setzen.

Forschung trifft Baupraxis

Prof. Dr.-Ing. Lucio Blandini, Leiter des ILEK, forderte eine engere Verzahnung von Forschung, Planung und Industrie. Entwicklungen müssten schneller in reale Anwendungen fließen. „Es reicht nicht mehr, Innovationen für Fachpublikationen zu entwickeln – wir müssen sie gemeinsam mit Partnern umsetzen, testen und weiterentwickeln. Die Herausforderungen der Gegenwart brauchen Antworten, die in der Praxis bestehen können“, so Blandini.

Prof. Dr.-Ing. Lucio Blandini (ILEK) präsentierte das adaptive Forschungshochhaus D1244 als Labor für neue Fassadenkonzepte. © FVHF/Dennis Neuschaefer-Rube
Prof. Dr.-Ing. Lucio Blandini (ILEK) präsentierte das adaptive Forschungshochhaus D1244 als Labor für neue Fassadenkonzepte. © FVHF/Dennis Neuschaefer-Rube

Er präsentierte das adaptive Demonstratorhochhaus D1244 – einen modularen Forschungsturm mit rückbaubaren Fassaden-Mock-ups. Die Systeme reichen von faserbasierten Leichtbaufassaden über kinetische Sonnenlenksysteme bis hin zu Doppelfassaden. Bereits am Vormittag hatten die Gäste das Gebäude bei einer Führung besichtigt.

Textilhüllen speichern Regenwasser

Professorin Dr.-Ing. Christina Eisenbarth (TU Darmstadt) stellte das Forschungsprojekt HydroSKIN vor, das sie im Rahmen ihrer Promotion am ILEK entwickelte. Die mehrlagige Leichtstruktur nimmt Regenwasser direkt an der Fassade auf, filtert es und führt es – je nach Bedarf – der Gebäudeversorgung oder der natürlichen Verdunstungskühlung zu.

Neben der Reduktion von Trinkwasserverbrauch und Energiebedarf bietet das System auch in heißen Städten potenziell wirksamen Schutz vor Überhitzung. Insbesondere im Gebäudebestand könne HydroSKIN durch sein geringes Flächengewicht und die modulare Bauweise neue Lösungswege eröffnen. „HydroSKIN funktioniert wie eine intelligente, klimaaktive Hülle: Sie speichert Regenwasser direkt an der Fassade und nutzt es zur natürlichen Kühlung – sauber, ressourcenschonend und perspektivisch überall nachrüstbar“, fasst Prof.’in Dr.-Ing. Christina Eisenbarth zusammen.

VHF als Wärmequelle für Wärmepumpen

Dr.-Ing. Federico Giovannetti vom Institut für Solarenergieforschung Hameln (ISFH) richtete den Blick auf ein anderes Potenzial: die Nutzbarkeit der Gebäudehülle als Wärmequelle für Wärmepumpensysteme. Er präsentierte Forschungsprojekte, in denen Fachleute vorgehängte hinterlüftete Fassaden als thermisch aktive Bauteile untersuchen – mit dem Ziel, sie in bestehende Versorgungssysteme zu integrieren oder sogar als alleinige Quelle zu nutzen.

„Die VHF kann mehr als nur Gebäudehülle sein – sie birgt das Potenzial, eine alternative Wärmequelle zu werden. Unsere Forschung zeigt, dass sich Funktion und Gestaltung nicht widersprechen müssen – doch die Umsetzung erfordert klare Prozesse, abgestimmte Planungstools und engagierte Partner“, so Giovannetti. Die größten Herausforderungen liegen in der Planung und Koordination zwischen den beteiligten Gewerken sowie in der Entwicklung praxistauglicher Standards.

Begrünte Fassaden regulieren Stadtklima

Felix Mollenhauer (Bundesverband GebäudeGrün e.V.) stellte die Wirkungspalette der Fassadenbegrünung vor – von Temperaturregulierung und Luftreinigung über Schallschutz bis hin zur Förderung von Biodiversität im Stadtraum. VHF böten dafür gute Voraussetzungen, etwa durch modulare Nachrüstung und konstruktiven Schutz.

Felix Mollenhauer (Bundesverband GebäudeGrün e. V.) erläuterte die vielfältigen Wirkungen und Systeme der Fassadenbegrünung. © FVHF/Dennis Neuschaefer-Rube
Felix Mollenhauer (Bundesverband GebäudeGrün e. V.) erläuterte die vielfältigen Wirkungen und Systeme der Fassadenbegrünung. © FVHF/Dennis Neuschaefer-Rube

„Fassadenbegrünung ist kein Allheilmittel – aber ein wirkungsvoller Baustein zur klimaresilienten Stadt“, fasste Mollenhauer zusammen. Vorgehängte hinterlüftete Fassaden ermöglichen eine klare Trennung von Tragschicht und Bekleidung, erlauben einfache Nachrüstungen und schützen die Baukonstruktion. Gemeinsam mit dem FVHF und dem VFF entstand ein Merkblatt, das technische und gestalterische Möglichkeiten aufzeigt.

Modulare Wasserspeicher in der Fassade

Dr. Mirko Hänel (ttz Bremerhaven) präsentierte das interdisziplinäre Netzwerk Funktionsfassade, das Akteure aus Forschung, Industrie und Planung zusammenbringt. Das Ziel: marktfähige, ressourceneffiziente Fassadentechnologien entwickeln und in realen Bauprojekten umsetzen.

Im Fokus steht ein neu entwickeltes, modulares Speichersystem, das bis zu 40 Liter Regenwasser pro Quadratmeter aufnimmt. Das System leitet Wasser gezielt vom Dach in die Fassade ein. „Unser Ziel war ein robustes, bezahlbares und praxistaugliches System – nicht im Labor, sondern an der Fassade“, so Hänel. Erste Reallabore entstehen in Berlin und Bremerhaven, internationale Projekte folgen im Rahmen des Nachfolgeprojekts Urban Adaptation.

Photovoltaik gehört an die Gebäudehülle

Fabian Flade (Allianz Bauwerkintegrierte Photovoltaik e. V.) plädierte für eine stärkere Nutzung von Fassaden zur Stromgewinnung – insbesondere im urbanen Raum. Anhand preisgekrönter Beispiele aus dem In- und Ausland zeigte er, dass Energiegewinnung und Architektur keine Gegensätze darstellen. „Photovoltaik muss raus aus der Nische – sie gehört dorthin, wo Fläche ist: an die Gebäudehülle. Je früher wir anfangen, einfache wie anspruchsvolle Lösungen zu realisieren, desto größer unser Beitrag zur Energiewende“, so Flade.

CEPA vereint Dämmen, Heizen und Speichern

Thomas Buchsteiner stellte CEPA vor, die Energiefassade für Sanierungen, die Dämmen, Heizen, Kühlen und Speichern in einem System vereint. Sie überträgt Energie über die Hülle ins Mauerwerk, das zugleich als Speicher dient. „Wir bringen die Haustechnik nach draußen – und erschließen die Fassade als funktionale Schnittstelle zwischen Energieerzeugung, Speicher und Komfort“, so Buchsteiner. Die Lösung funktioniert im Niedertemperaturbereich, arbeitet energieträgerunabhängig und lässt sich auch im bewohnten Zustand montieren – individuell oder seriell.

Ausblick auf klimaaktive Gebäudehüllen

Die Vorträge machten deutlich: Die vorgehängte hinterlüftete Fassade entwickelt sich zur klimaaktiven Gebäudehülle, die Energie erzeugt, Wasser speichert, Städte kühlt und neue Gestaltungsräume eröffnet. Damit zeigt sie ihr Potenzial als Schlüsselbaustein der Klimawende im Gebäudebereich.

FVHF-Vorstandsvorsitzender Andreas Reinhardt dankte allen Referierenden und Gästen für die Beiträge und die lebhaften Diskussionen. Er betonte, dass der Verband die gewonnenen Impulse aufgreifen und gemeinsam mit Planern und Partnern in konkrete Lösungen für die Fassade der Zukunft überführen werde.

Nach dem offiziellen Teil nutzten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Atmosphäre unter dem Zeltdach von Frei Otto für Gespräche und Austausch mit den Referenten. (mb)

www.fvhf.de

© Foto: Ken Schluchtmann, diephotodesigner.de

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